Stefan, das erinnert mich wiederum an eine Begegnung vor langer Zeit in München. Ich habe diese Begegnung und ihre Bedeutung für mich in einem kleinen Büchlein festgehalten, das ich hier auch als Homepage eingestellt habe (
https://www.joyclub.de/profile/homepage/1110736-158971.knoten_im_taschentuch.html ) und möchte an dieser Stelle noch einmal daraus zitieren, weil es zum Thema passt:
Vor Jahren war ich beruflich in München ... in meiner Freizeit schlenderte ich durch die Einkaufsstraßen und entdeckte irgendwo auf einer Ecke ein Lädchen ... ein Antiquariat für alte Bücher ... ich musste ein paar Stufen hinabsteigen und meinen Kopf etwas ducken, um in das Innere des Ladens zu kommen ... da steht, dicht beim Eingang eine alte Frau mit schlohweißem Haar und sie schaut mich aufmerksam einen Moment lang an mit ihren jugendlichen tiefdunklen Augen ... sie heißt mich auf eine herzliche Art willkommen, ich möge mich in Ruhe umschauen ...
Hatte diese, geschätzt an die achtzigjährige Frau, eben mit mir geflirtet und mir ein Auge zugezwinkert? Hmmm ... ich komme kurz ins Grübeln, doch meine Gedanken verflüchtigen sich bald im Angesicht der Eindrücke dieses seltsam anziehenden Lädchens ...
Vor mir eröffnete sich ein nicht allzu großer Raum, ringsum mit hohen Bücherregalen eingerahmt, auf denen alte Schätze auf ihre neuen Besitzer warteten ... die Bücher waren in den Regalen nach Themen geordnet und sorgfältig beschriftet ... es roch nach altem Papier und den ganzen Raum erfüllte eine Atmosphäre von unendlichem Wissen, so kam es mir vor ... alle Klassiker waren vorhanden ... Goethe, Schiller, Lessing, Herder und sogar mein guter alter Hermann Hesse ... schöne, wohlgepflegte Ausgaben, von denen ich gern einige mein Eigen genannt hätte ...
In der Mitte des kleinen Ladens stand ein großer Auslagentisch, auf dem viele Bücher nebeneinander ausgestellt und aufeinander gestapelt waren ... schon war ich im Reich dieser antiquaren Schätze versunken und bemerkte kaum mehr die jugendliche Alte ... da fiel mein Blick auf ein dickes, kartoniertes Buch in dunkelblauem Einband mit dem Titel "Die Wolfsfrau", das mich auf seltsame Weise anzog ... ich nahm das Buch zur Hand und schlug es in der Mitte auf, um zu sehen, wie es sich liest ... ich erwische eine Geschichte in dem Buch mit dem merkwürdigen Titel "Die Skelettfrau" ... huuuuuuuu ... doch irgendetwas zieht mich magisch an und ich beginne zu lesen ... die Geschichte erzählt von einem Eskimomädchen, das von ihrem Vater verstoßen und über eine Klippe ins Meer geworfen wurde und wie ein junger Fischer in der seither verwunschenen Bucht einen vermeintlich großen Fisch an der Angel hatte ... mit großen Mühen zieht er den Fang in sein Boot, muss aber zu seinem Entsetzen feststellen, dass es sich um ein Skelett handelt, über und über von Muscheln besät ... der Fischer versucht, das Skelett wieder über Bord zu werfen und zu fliehen ... doch in seinem Iglu angekommen bemerkt er, dass er das Skelett nicht abschütteln konnte ... es war ihm gefolgt und lag nun in einer Ecke seines Heims, die Knochen schrecklich verworren und in der Angelschnur verfangen ... in einem Anflug von Mitleid entwirrt er das Knäuel und fällt anschließend erschöpft auf sein Bett, worauf er sogleich einschläft ... in seinem Traum, der ihn offenbar an das Erlebte erinnert, beginnt er zu weinen und eine Träne rinnt ihm über die Wange, was von der Skelettfrau bemerkt wird, die zuerst von der Träne trinkt, sich dann zu dem Fischer ins Bett legt, sein Herz ergreift und beginnt, darauf zu trommeln, wobei sie ein rhythmisches Lied anstimmt und durch ihr Singen und Trommeln wieder zu Fleisch und Leben erweckt wird, bis ihre tief dunklen Augen wieder lebendig strahlen ...
Und wie ich so mit diesem Buch in der Hand zu Kasse gehe, sitzt dahinter die junge alte Frau und empfängt mich mit einem Lächeln und den Worten, ich hätte eine gute Wahl getroffen und es wäre genau das richtige Buch für mich ... leicht peinlich berührt bezahle ich schnell und verlasse mit kurzem Gruß und meinem Schatz unter dem Arm das Lädchen.
Später habe ich das Buch gelesen, es ist von einer mexikanisch-amerikanischen Psychoanalytikerin geschrieben, Clarissa Pinkola Estés, die sich auch einen Namen als sogenannte Cantadora (= Märchen- oder Geschichtenerzählerin) gemacht hat ... die Autorin beschreibt und analysiert darin auf ihre Weise die Seele der Menschen und besonders die der Frau, der "wilden Frau", wie die Erzählerin sie bezeichnet ... einer Art Ur-Frau, Ur-Mutter mit natürlichen Gaben und Instinkten ausgestattet, die es anhand von Märchen und Geschichten wiederzuentdecken gilt ... ich habe das Buch noch heute in meiner Nachtkonsole neben dem Bett aufbewahrt.
Seltsam, dass es oft sehr alte oder sehr junge Menschen sind, die diese Ausstrahlung, diese Aura, diese natürliche Liebe oder einfach positive Lebensenergie verströmen, oder?
Lieben Gruß
Jens